Höhenflug mit Fragezeichen

 eine Analyse von Hans Heiss

Im Rahmen der heurigen „Toblacher Gespräche“ hielt der Abgeordnete und Historiker Hans Heiss einen viel beachteten Vortrag über Stärken und Schwächen des Tourismus. Er förderte dabei schonungslos und analytisch tiefgreifend jene Punkte (die „sieben Todsünden“) an das Tageslicht, die dringend geändert werden müssen, damit die touristischen Strukturen auch in Zukunft den hohen Stellenwert behalten. 

TT152101a

Hans Heiss

Südtirol in der Englischen Epoche 2001-2013

Südtirols Tourismus hat in 15 Jahren einen beeindruckenden Spurt hingelegt. Wir bezeichnen die Ära nach einem Hauptakteur, dem früheren SMG-Chef Christoph Engl, als ‚Englische Epoche’, abgekürzt EE, mit markanten Kennziffern.

  •        In der EE wuchs im Bundesland Tirol zwischen 2001 und 2011 die Zahl der Nächtigungen von 40,5 Mio. auf 42,9 Mio. und damit um 5,88%.
  •        Im Trentino, belief sich zeitgleich der Anstieg von 19,13 Mio. auf 20,467 Mio. und kletterte damit um 6,96%.
  •        Südtirol: Von 24,7 Mio. Nächtigungen 2001 steigerte sich unser Land auf 28,88 Mio.: Ein Zuwachs von 16,93%, knapp dreimal höher als in Tirol/Trentino.

Es gab drei Träger des Erfolgs: Die Unternehmen selbst, die sich mit Inhabern und Mitarbeiterschaft im Tourismusmarkt neu positionierten, die Steuerung der öffentlichen Hand, zumal der Südtirol- Marketing-Gesellschaft, die Gästeströme, die verstärkt Südtirol ansteuerten.

Die Betriebe durchliefen 2001-2011 einen Prozess druckvoller Qualifikation und Professionalisierung. Hierzu eine ironische Pointe: Die Sterne, die der verflossene LH Durnwalder für seine Nachfolge lange vermisste, wuchsen im Tourismus zur wahren Milchstraße. Die Zahl der Vier-Sterne-Hotels zog sprunghaft auf 420 an, sie waren die Siegerkategorie seit 2001, ergänzt um 20 Fünf-Sterne-Flaggschiffe.

Kein Triumph ohne Opfer: Unter die Räder des Qualifikationszugs gerieten vor allem Ein- und Zweisternehäuser. Sie gingen reihenweise vom Markt, da sie als hybrider Zwischentyp galten, der weder die erforderlichen Qualitätsstandards erfüllte, ob mäßiger Bettenzahl wacklige Rentabilität aufwies und nicht über jene Dosis Regionalität verfügte, die zur weiteren Trumpfkarte der EE wurde. Als Kontrast zur Business-Class der Vier- und Fünfsterne profilierte sich der „Urlaub auf dem Bauernhof“, der heute acht Prozent der knapp 29 Mio. Nächtigungen erzielt. Sein Markenzeichen, der „Rote Hahn“, kräht kräftig, freudig angenommen als Emblem von Regionalität, Naturnähe und wahrgenommener Authentizität. Viele Hoteliers hingegen beäugen den neuen Gockel auf dem touristischen Hühnerhof misstrauisch, da sie dessen Steuervorteile nicht goutieren.

 

Starke werden stärker, Schwache schwächeln

Die Marktkonzentration, die sich bei den Unternehmen durchzeichnet und die Großen zunehmend begünstigt, setzte sich auch auf lokaler Ebene bei der Verteilung der Nächtigungen quer über das Land durch.

Sucht man unter den 116 Gemeinden Südtirols nach starken Destinationen, so zeugt sich als allgemeiner Trend, dass Starke stärker wurden und bereits Schwache vor sich hin schwächelten.

Südtirol verfügt über drei Power-Regionen:

  • Das Burggrafenamt mit Meran, das mit den Turbo-Standorten Dorf Tirol, Schenna, Lana, Marling und Algund mit über 6,2 Millionen Nächtigungen rund 22% des Südtiroler Gästeaufkommens generiert.
  • Das zweite Epizentrum Südtirols liegt rund 100 km entfernt: Das Drehkreuz von Puster-, Gader- und Ahrntal, für die ich den Begriff der Pustro-Badia einführe. Anders als im Meraner Land verknüpfen sich hier Sommer- und Wintertourismus mit dem Kronplatz als Dreh- und Angelpunkt. Hier sind mit 8,6 Mio. rund 27% des Tourismus konzentriert.
  • An Pustro-Badia schließt sich die Achse Gröden-Schlerngebiet an, das Einzugsgebiet des Grödentals und der Seiser Alm, das Traumland Seiselva: Mit Wolkenstein, St. Ulrich und St. Christina, der Spatzenheimat Kastelruth und Völs erzielt Seiselva eine Gästezahl von 5,15 Mio. - macht wiederum gut 15%.

Die drei Powerregionen Burggrafenamt, Pustro-Badia und Seiselva spielen knapp 20 Mio. Nächtigungen ein und erzielen damit rund 70% des Südtiroler Gesamtaufkommens. Hinter den drei Boliden in der Pole-Position lauern erfolgreiche Nachzügler wie das Überetsch mit Eppan & Kaltern, das formschwache Bozen, der durch die Bahn und die nahe Schweiz belebte Vinschgau, das Wipptal mit Ratschings/Sterzing und das Eisacktal.

Die Erfolge überstrahlen aber auch eine Reihe von Sufferenzen: Nicht nur die Winzlinge Laurein, Proveis, Waidbruck, Margreid, Branzoll, Franzensfeste, Kuens, Altrei und Taufers im Münstertal darben vor sich hin, sondern auch klangvollere Namen wie Auer, Kurtatsch und Salurn im Südtiroler Unterland oder Schnals im Vinschgau. Die Erfolgsstory des Genusslandes hat ihren Preis: So wie kleine Betriebe schwindsüchtig werden, so entbieten auch manche Gemeinden dem Tourismus ein leises Servus.

Qualifikation, Professionalisierung, Destinationsbildung und Marktbereinigung sicherten Krisenfestigkeit auch während der Durststrecke des Finanz- und Wirtschaftsdesasters 2008-2015.

Nur 2014 gab es eine kleine Delle der Nächtigungszahlen, die heuer bereits wieder wettgemacht wird, trotz Rückgangs der italienischen Gäste, des zweiten Hauptmarkts nach den Bundesdeutschen, deren Anteil bei inzwischen knapp 60% hält.

 

Problemzonen

Die betriebliche und regionale Marktbereinigung in Südtirol ist begleitet von Strukturproblemen, die unter der glanzvollen Erfolgsfassade hervordrängen.

Eine erste Problemzone liegt auf der Hand: Nächtigungszuwachs bedeutet nicht notwendig mehr Rentabilität: Den Aufstieg der Vier- und Fünfsterne begleitet ein Investitionsschub zur notwendigen Stärkung von Bauten und Ausstattung. Schulden- und Zinsendienst laufen nur dann klaglos, falls ein Preisniveau erzielt wird, das neben Kostendeckung gute Erträge ermöglicht. Falls aber Wirte weich werden und den zunehmend preisbewussten Gästen wider besseres Wissen Abschläge gewähren, stehen Dumping und fehlender Cash-Flow ins Haus.

Den Preisdruck verschärfen die Buchungsportale, auf die viele Betriebe längst schon angewiesen sind. Bei geforderten und gewährten Rabatten von 12-20% wie sie Booking.com eintreibt, sinkt die Rentabilitätsmarge bald unter die Schmerzgrenze. Vielfach wirkt nur das niedrige Zinsniveau als Hitzeschild gegen eine drohende Schuldenspirale. Viele kleinere Betriebe außerhalb der Gunstlagen von Burggrafenamt, Pustro-Badia und Seiselva stehen in einem veritablen Preiskrieg.

 

Sieben Hauptsünden

Trotz der überragend positiven Bilanz der letzten 15 Jahre, die sich vorteilhaft abhebt vom Tiroler Nachbarn, gibt es sieben Hauptsünden des Genusslandes Südtirol.

 

Grundverbrauch: Ein Land verzehrt sich

Südtirols aktuelle Debatte um eine neue Raumordnung zielt vor allem darauf, den Verbrauch an Grund und Boden zu stoppen. Tagtäglich wird ein Fußballfeld neu unter den Bagger genommen, um darauf Wohnbauzonen, Gewerbeflächen, Infrastrukturen und eben auch touristische Einrichtungen erstehen zu lassen. Ein Land, dessen Siedlungsfläche unter 1200 m Seehöhe auf 12% der Landesfläche begrenzt ist, muss die Notbremse ziehen. Es drohen „Dichtestress“, vor allem aber Bodenversiegelung und Naturgefahren, zumal in der nun voll einsetzenden Phase von Klimawandel und Permafrost-Abbau.

 

Landschaftszerstörung: Ein Land verheert sich

Der zweite Aspekt ist jener des drohenden Umbaus, ja des Kippens der Landschaft. Landschaft ist mehr als Ornament, sie ist die Verbindung von Wahrnehmung und Wirklichkeit, die Verschmelzung von gestalteter Außenwelt und unserem inneren Wohlbefinden. Die Zerstörung von Landschaft bedeutet auch die Vernichtung von Harmonie, Offenheit und Perspektiven. Südtirols Landschaft ist eine der reichsten Europas. Diese Balance wird Jahr um Jahr mehr gestört, nicht zuletzt durch touristischen Zugriff, mit massiven Attacken auf die Landschaftsqualität.

 

Architektonische Genmanipulation: Ein Land verzerrt sich

Die fortschreitende Zersiedlung spitzt sich weiter zu durch die beachtlichen, oft enormen Bauvolumina, die der Tourismus generiert. Quantitative und qualitative Erweiterung führen bei Hotels und anderen Beherbergungsbetrieben oft genug zu einer wenig maßstäblichen Aufweitung des Baubestandes und zur aufdringlichen Anordnung von Neugebäuden. Obwohl der Wert guter Architektur jüngst auch erkannt wird, in Kreationen, die sich vom Vigilius Mountain Resort bis zu Stadthotels wie Pupp in Brixen erstrecken, überwiegt doch die Zahl jener Neukreationen, die Siedlungen und Landschaften mehr entstellen als systematisch entwickeln, mehr Metastasen als Module gelungener Neuintervention.

 

Energiefresserei: Ressourcen im Rebound

Südtirol gibt sich gerne als Vorreiter auf dem Weg zu Klimazielen und verringertem Co-2-Ausstoß. Die Einsparungen an fossiler Energie sind gewiss beträchtlich, vor allem dank energetischer Sanierung und neuer Energie-Effizienz. Erhöhte Energieeffizienz wird zum Gutteil wieder aufgefressen von raschem Verbrauchsanstieg, die gerade im Tourismus zu Buche schlagen. Die Zunahme des Stromverbrauchs der Branche und der mit ihr verbundenen Zuarbeiter ist beeindruckend. Allein die Energiekosten für künstliche Beschneiung nehmen 10% des Umsatzes der Aufstiegsanlagen in Anspruch. Die an Las Vegas gemahnenden Lichtorgien in Wintersportorten sind bekannt. Die Einspareffekte von energetischer Sanierung werden durch erhöhten Verbrauch locker wieder aufgezehrt, im sattsam bekannten Rebound-Effekt von Einsparungen, die neuen Energiekonsum erst recht anheizen.

 

Erhöhte Bodenpreise

Tourismus bildet Wohlstand, er hält Arbeitsplätze in dezentralen Räumen, er sichert Existenz auch für die bäuerliche Landwirtschaft. Seine Vorzüge für Volkwirtschaft und gedeihliche Entwicklung schlagen aber auch ins konkrete Gegenteil um, wenn man die Preisbildung von Grund und Boden betrachtet. Die Knappheit von Grundstücken wird durch den Tourismus wesentlich gesteigert, dessen Grundverbrauch und Produktion von Zweitwohnungen das Preisniveau im Wohnungsmarkt anheizt. Die Lebenschancen Einheimischer ohne eigenen Wohnraum werden hierdurch drastisch verengt, der Traum vom eigenen Heim bleibt in Gröden, im Abteital wie in anderen Gemeinden unerfüllt. Die Folge heißt Abwanderung oft gerade junger und begabter Menschen.

 

Heimliche Überschuldung

Viele Häuser in Südtirol arbeiten mit guter Rendite, deren Cash-Flow auch große Investitionen ermöglicht. Ein Hotelkomplex wie Dorfers “Quellenhof“ im Passeiertal verkraftet problemlos ein Paket von 9 Mio. Investitionen in nur drei Jahren. Aber es gibt auch die vielen anderen, die mit Tiefpreisen und mäßiger Auslastung vor sich hin krebsen, Dauerkunden bei heimischen Banken und anderen Kreditgebern. Sie haben wenige, oft schlecht bezahlte Mitarbeiter und leiden unter dem Druck von Steuerlasten wie der GIS. Sie sind stumme Verlierer im Genussland Südtirol, oft in auswegloser Lage. Ein Verkauf ist dornenvoll, da der Markt für Hotel-Immobilien schwierig ist und die Raumordnung Umwidmungen oft blockiert. So krebsen Hunderte Inhaberfamilien vor sich hin, in einer Schuldenspirale, die stetig anzieht und aus der nur selten Befreiung gelingt.

 

Falsche Mobilität

Mobilität und Erreichbarkeit sind chronische Agenden in Südtirols Tourismus. Die Faktenlage ist einfach: Noch 2009 wurden 28,017 Mio. Übernachtungen mit 5,5 Mio. Gästeankünften generiert, 2014 bedurfte es für knapp 28,5 Mio. Nächtigungen bereits 6,14 Mio. Ankünfte. Für ein Nächtigungs-Plus von nur 2% bedurfte es um 11% mehr an Ankünften. Gäste bleiben kürzer, sie werden mehr und beweisen erhöhte individuelle Mobilität. Für einen kleinen Nächtigungszuwachs müssen Land, Menschen und Natur Hunderttausende Autos mehr verkraften. Mit 4,7 Tagen Aufenthaltsdauer pro Gast steht Südtirol immer noch weit besser da als viele Hit-and-Run-Destinationen des Alpenraums, hat aber Jahr um Jahr mit steigender PKW-Mobilität zurechtzukommen. Der von Tourismus und Wirtschaft erhoffte Ausbau des maroden Flugplatzes Bozen hilft wenig gegen die sich türmende Mobilitätswelle. Weit eher der Ausbau der internationalen Bahnverbindungen: Wie von Wolfgang Niederhofer jüngst vorgerechnet, leben rund 130 Mio. Menschen im Umkreis von 500 km rund um Südtirol. Ideal für ein verbessertes Bahnangebot, das im Land selbst enorm zugelegt hat, an internationaler Anbindung aber wahrhaft ärmlich ausfällt. Während im Bundesland Tirol bereits fünf Prozent der Gäste mit ÖBB anreisen, ist man in unseren Breiten noch weit davon entfernt.

 

Therapievorschläge im Umriss

Den sieben Hauptsünden folgen noch sieben Rezepte, als Therapie und Reha-Kur fürs Genussland.:

  1. Grenzen des Wachstums fixieren, etwa 30 Mio. Nächtigungen sind genug!
  2. Wenige Leitbetriebe pro Talschaft sollten ausreichen.
  3. Unternehmen in heimischer Hand unterstützen
  4. Familienbetriebe und Gemeinwohlökonomie stärken
  5. Ganzjahrestourismus fördern
  6. Den unausweichlichen Rückbau des Winters entschieden begleiten
  7. Klima-Tourismus entwickeln.

 

Zum Schluss ein Fazit, das SMG-Chef Christoph Engl bei seinem Abgang im Jahr 2013 Südtirols Tourismus hinterlassen hat: „Zum Lebensraum-Konzept gehören aber auch eine nachhaltige Energieversorgung der gesamten Region, ein Nahverkehrskonzept für eine weitläufige Region auf dem Komfortniveau einer modernen Stadt, Produkte der regionalen Landwirtschaft als Grundpfeiler für die Gastronomie und die Haushalte, energieeffizientes Bauen und eine vorausschauende Nutzung der knappen Siedlungsflächen, der Erhalt der bäuerlichen Kultur und Landwirtschaft, intelligente Ver- und Entsorgungssysteme in den Gemeinden, ein ausgeprägtes und gefördertes Bewusstsein für die Alltagskultur.“

Keine schlechte Ansage für einen gestandenen Touristiker und eine Plattform der Verständigung mit all jenen, die sich einen zukunftsfähigen Tourismus in Südtirol wünschen.

 

Zusätzliche Informationen

Diese Seite verwendet Cookies!

Durch die Nutzung der Website stimmen Sie zu, dass Cookies gespeichert werden. Mehr darüber

Ich verstehe