Wie lange gibt es sie noch, die Bauern, die auf dem Stegener Markt mit ihren von der Arbeit gezeichneten Händen eine Gekochte verdrücken? Wer erinnert sich noch an die Konzerte auf dem Schlossberg, dem kleinen Woodstock von Bruneck? Und an den Eisverkäufer vom Graben und an die italienischen Sommergäste, die im Pelzmantel „bella figura“ machten, eine Repubblica unter die Achsel geklemmt? Theo Stammer hat Hunderte dieser Momente aus unserem Alltag fotografisch festgehalten. Eine Begegnung.
Theo Stammer
Theo Stammer ist ein „fanatischer Notierer seiner eigenen Existenz“. Dieser Satz beschreibt den Künstler treffend. Exakt 191.180 Dias (Stand Oktober 2015) schlummern in seinem Atelier in Bonn, sorgfältig verstaut und chronologisch geordnet in 384 Koffern. „Sie warten dort, bis sie entdeckt werden“, sagt der 64jährige. Nun muss man dazu sagen, dass ein kleiner Teil der Bilder der Öffentlichkeit schon bekannt ist. Schließlich sind schon mehrere Bücher mit Fotos von Stammer erschienen, eines ist ganz dem Stegener Markt gewidmet, ein anderes der Stadt Bruneck, ein drittes der Ladinerwallfahrt nach Säben. Die Bilder ziehen den Betrachter sofort in andere Zeiten, sie wecken Erinnerungen an die eigenen Jugend oder Erstaunen über Geschehnisse, von denen man nichts wusste.
Das Foto der alten Frau, die sich auf dem Stegener Markt beim Bezahlen einen 5000-Lire-Schein in den Mund geklemmt hat, gehört zu Stammers Lieblingsbildern
Begeisterter Fotograf
Stammer hat sie alle vor der Linse gehabt. Junge, Alte, Einheimische, Urlauber. Besonders gerne stieg er, der Absolvent der Kölner Fachschule für Kunst und Design, zu den entlegenen Höfen hinauf, als noch nicht jedes Haus durch eine Straße erschlossen war. Oder wie er sagen würde, „als Durnwalder noch nicht zu allen Häusern eine Straße hat bauen lassen“. Dort oben in der Abgeschiedenheit begegnete er den Bergbauern in ihrem Alltag, zunächst in Prettau, später in Enneberg. „Das Leben der Bauern in und mit der Natur hat mich als Städter sehr beeindruckt. Es war ganz anders im Vergleich zur Bundeshauptstadt Bonn mit ihren Beamten und Bürokraten, aus der ich kam, und doch gab es Gemeinsamkeiten. Ein Bauer sät und weiß auch nicht immer, was er erntet. Bei Künstlern ist das im Grunde ähnlich.“
Begegnung mit Bruneck
Das Interesse Stammers am hiesigen Leben wurde früh geweckt. Mit 14 Jahren kam er zum ersten Mal im Rahmen einer von der Caritas organisierten Ferien-Fahrt nach Bruneck in die Sommerfrische. „Aus Südtirol war mir nur der Luis Trenker bekannt und ich hatte mal von Andreas Hofer gehört. Ich wusste, das gehörte zu Italien, über politische Hintergründe aber hatte ich keine Ahnung.“ Er war bei den Ursulinen untergebracht. „Das war mein Glück“, sagt er. Denn hier, mitten in der Stadt, konnte er am besten beobachten. Wie war der erste Eindruck? Stammer schließt die Augen. „Es war ein kleines Städtchen, die Fassaden teilweise noch abgebröckelt. Ich kann noch alles ganz genau rekonstruieren, wie es damals war. Der Ambrosi-Gemüsehändler, Radio Mair, die Milchbar, das Geschäft mit den Nähmaschinen..“
Von 1965 bis 1969 kehrte er jeden Sommer mit der Caritas nach Bruneck zurück. Es gefiel ihm so gut, dass er sich für die Folgejahre eine private Unterkunft suchte, zuerst weiter bei den Ursulinen, dann bei Freunden und Gönnern. Stammer fiel mit seinen langen Haaren auf. Wer damals zur Schule ging, weiß, welches Schicksal Schülern drohte, die ihre Haare wachsen ließen. „Man hat ja sogar einen Detektiv auf mich angesetzt, um zu schauen, ob wohl nicht irgendwelche Umtriebe in Gang sind.“ Heute kann er über diese Begebenheiten herzlich lachen.
Verschiedene Ausstellungen
50 Jahre ist es nun her, dass Theo Stammer, der schlaksige Bub aus Bonn, zum ersten Mal in die Rienzstadt kam. Für ihn waren es „wunderbare Jahre“. Er ist dankbar, mit „interessanten Leuten“ zusammengekommen zu sein, die seine Kunst schätzen und ihn immer wieder unterstützen. Noch ein halbes Jahr lang hängt im Café Wörtz-Bäck jeden Monat ein großformatiges Foto von Theo Stammer. Ein „Dreierlei“ seiner künstlerischen Exponate (Bleistiftzeichnungen, Pastellmalerei und Linolschnitte) sind noch bis 18. Dezember in der Raiffeissen-Galerie in Bruneck ausgestellt.
Der neugierige Blick
Vielleicht sind seine Bilder deshalb so besonders, weil er immer wieder geht und mit neugierigem Blick zurückkommt. Zuerst war er nur im Sommer da, dann auch zu Ostern. „Und irgendwann auch im Herbst, wenn Stegener Markt war.“ Und immer zog er mit seiner Kamera los, meistens auf dem schlanken Rennrad, mit dem er zu den besten Giro-d’Italia-Zeiten so manche Pässe hinaufstrampelte. „Heimat ist da, wo man sich wohlfühlt“, sagt er. Dann hält er kurz inne. „Und das tue ich hier. Sehr.“
Warum macht er das? „Mit der Kamera konserviert man Dinge, die sonst irgendwann vergessen werden. Am Anfang sind es oft Nebensächlichkeiten, die ich festhalte. Und plötzlich werden sie zu einem wichtigen Inhalt und bekommen eine Bedeutung. „Ich bin ein ‚Straßenfotograf‘. Das heißt aber nicht, dass ich wahllos drauflosklicke. Ich gestalte die Bilder immer aus dem Blickwinkel des künstlerischen Sehens.“ Und damit ist im Grunde alles gesagt.
Zur Person
Vor 50 Jahren kam Theo Stammer (Karl-Theo), Jahrgang 1951, zum ersten Mal nach Bruneck. Seither ließen ihn die Stadt, das Pustertal, ganz Südtirol mit seinen Bewohnern nicht mehr los. Der Absolvent der Kölner Fachschule für Kunst und Design wollte „Land und Leute kennenlernen“ und hielt seine Eindrücke fotografisch fest. Fast 200000 Dias lagern in seinem Archiv. Die Bilder zeigen Momentaufnahmen des hiesigen Lebens, ob auf dem Stegener Markt, abgeschieden gelegenen Bauernhöfen oder mitten in der Stadt. Der Künstler wurde unter anderem mit der August-Macke-Medaille, dem Hans-Thuar-Preis und dem Bonner Kunstpreis ausgezeichnet. Stammer lebt und arbeitet abwechselnd in Bonn und Bruneck.
Verena Duregger