Am Dienstag, den zehnten Mai, haben sich im Brunecker UFO neben dem Journalisten und Historiker Christoph Franceschini, dem Politikwissenschaftler Stefano Fait, der Studentin Anna Gius und dem Vorsitzenden des Brunecker Beirates für Integration und Migration ,Leon Pergjoka, rund 100 interessierte Bürgerinnen und Bürger mit dem Begriff Heimat auseinandergesetzt. Es gab einige überraschende Beiträge.
Aktivistin Anna Gius und Moderator Markus Lobis ph
Organisiert wurde der Abend vom Kulturverein „Diverkstatt“ gemeinsam mit dem Jugend- und Kulturzentrum UFO. In Zeiten, in denen von Grenzen und Festung Europa die Rede ist, Ausgrenzung ein Alltagszustand für viele geworden ist und eine große Zahl von Menschen vor Krieg und Elend flieht, sei, laut Organisatoren, eine Diskussion über „Heimat“ sehr wichtig und unabdingbar. Die Veranstaltung und ihr Verlauf gaben ihnen Recht. Erst durch das Nachdenken über den Begriff selbst werden die vielen verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten und auch die große Subjektivität des Wortes sichtbar. Dass es einige Menschen und Gruppierungen gebe, die meinen, die Deutungshoheit über das Wort zu besitzen, und der Begriff „Heimat“ somit oft missbraucht werde, stehe laut Moderator Markus Lobis fest. Diverkstatt will daher das Wort „Heimat“ von denen zurückholen, die es „gestohlen“ haben und zum Manipulieren verwenden. So kurz vor dem Unabhängigkeitstag in Bruneck wird noch mehr spürbar, dass der Begriff als Instrument zum Politisieren und Diskriminieren, zum Ausschließen verwendet wird, und das dürfe nicht zugelassen werden. Gianluca Da Col, Vorsitzender von Diverkstatt, ist überzeugt, dass es möglich sei, Heimat und gleichzeitig Vielfalt zu lieben und dass Heimat auch geschenkt werden könne.
„Sich-Wohlfühlen“
Die Studentin und Aktivistin Anna Gius sieht Heimat als vielseitig definierbar. Fließend und ohne Grenzen. Als Südtirolerin, die in Wien studiert und lebt, hat sie zwei Heimaten. Sie fühle sich in beiden Orten wohl. Und genau darum gehe es auch im Begriff „Heimat“ – ums „Sich-Wohlfühlen“. Die Politik missbrauche laut Gius den Begriff um eine Einheit zu fingieren, um Grenzen zu ziehen, um sich besser vor dem „Fremden“ schützen zu können.
Doch Heimat müsse viel mehr ein Konzept sein, das Verschiedenes einschließt und Vielfältigkeit zulässt. Das Ziel der Veranstaltung sehe sie gerade darin, über die Bedeutung von Heimat gesprochen zu haben und verständlich gemacht zu haben, wie wichtig es ist, mit dem eigenen Kopf zu denken, sich zu wichtigen Themen eine Meinung zu bilden und vor allem den Mut zu haben, auch in Gesprächen nicht immer der Mehrheit zu folgen und Stammtischparolen wortlos stehen zu lassen, sondern auch den Mut zu haben, sich dagegen auszusprechen, seine Meinung zu zeigen und Aussagen zu hinterfragen.
Mehrere Heimatorte
Leon Pergjoka, der als Kind von seiner Heimat, dem Kosovo, fliehen musste und nach Südtirol kam, geht es ähnlich wie Anna. Er habe nicht nur eine Heimat, sondern er habe zwei. Ja sogar noch einige mehr, denn überall dort, wo er für längere Zeit war und sich geborgen gefühlt hatte, dort fühle er sich zu Hause, also daheim. Auch wenn es am Anfang nicht ganz einfach war, als 10-jähriges Kind sein Heimatland zu verlassen, lebte er sich Schritt für Schritt in Südtirol ein. Er verliebte sich in die Umgebung, in die Berge, er lernte die Sprache und spätestens als er zum ersten Mal einen Pressknödel gegessen hatte, war Südtirol auch zu seiner Heimat geworden, erklärte Pergjoka schmunzelnd.
Er erzählte auch von einem Schlüsselmoment, den er vor einiger Zeit erlebt hat: „Ich stand auf unserem Balkon in Bruneck und endlich hatte es angefangen zu schneien. Ich beobachtete die Flocken und blickte verträumt in den Himmel. Für einen Moment fühlte ich mich wie im Kosovo, wo ich als Kind die Schneeflocken bestaunte – es war dasselbe Gefühl wie damals. In diesem Moment habe ich realisiert, dass sich meine zwei Heimaten umarmt haben und miteinander verschmolzen sind.“
Überfrachteter Begriff
Laut dem Historiker und Journalisten Christoph Franceschini schaffe es Südtirol immer noch, sich in der Opferrolle zu fühlen, ohne dass die wahren Opfer gesehen werden. Seiner Meinung nach habe sich viel verändert und es haben sich in der Vergangenheit Gruppierungen entwickelt, die, ideologisch geschult, ein neues Heimatgefühl erschufen, welches doch sehr zu denken gebe. Er empfindet Heimat als einen Begriff, der negativ vorbelastet sei, weil auf der einen Seite Heimat und Produkte „aus der Heimat“ verkauft würden, auf der anderen Seite der Begriff zur Ausgrenzung benutzt werde, die es so nicht geben sollte.
Stefano Fait, Politikwissenschaftler und gemeinsam mit Mauro Fattor Autor des Buches “Contro i miti etnici : alla ricerca di un Alto Adige diverso”, sieht den Begriff Heimat als eine Technologie, die von der Menschheit erfunden wurde, um von ihr Gebrauch zu machen. Gefährlich sei es allerdings dann, wenn die Technologie so sehr entwickelt sei, dass sie allmählich die Kontrolle über die Menschen übernehme. Er vergleicht den Gedanken an Heimat mit Christopher Nolans Science-Fiction-Film „Inception“, in welchem eine reine Illusion so konkret und mächtig wird, dass sie zu einem Virus und plötzlich zur gefühlten Realität und Wahrheit wird. Allerdings ist Fait überzeugt, dass sich die Welt in den kommenden Jahren so stark verändern wird, dass der Begriff Heimat ohnehin viel größer und überdimensionaler gesehen werden wird, als dass er noch für Nationalitäten oder Zusammengehörigkeit von Menschengruppierungen dienen könnte.
Keine einheitliche Definition
Abschließend hatten auch einige Anwesende im Publikum die Möglichkeit, Resümee über den Abend zu ziehen und die eigene Definition von Heimat preiszugeben. Je unterschiedlicher die Aussagen zum Begriff ausfielen, umso deutlicher wurde, dass „Heimat“ ein sehr subjektives Wort ist, welches von jedem einzelnen individuell wahrgenommen und interpretiert wird. Für die einen ist Heimat der Ort, wo man sich wohl fühlt, für die anderen sind es die Menschen, bei denen man glücklich ist, wieder andere verbinden Heimat mit Frieden oder mit Beziehungen und Erinnerungen. Nur in einem Punkt herrschte nach dem Abend Einigkeit, nämlich dass es eben keine einheitliche Definition von Heimat geben kann und geben soll.
Nicht nur für Diverkstatt, sondern auch für das UFO Bruneck war die Veranstaltung ein Highlight der Diskussionskultur. „Wir haben bei den zahlreichen Wortmeldungen gesehen, dass der Wunsch nach Heimat immer auch der Wunsch nach stabilen Beziehungen und Frieden ist. Ich habe großen Respekt davor, dass sich junge Menschen so engagiert und verantwortungsvoll den Fragen unserer Zeit stellen. Das lässt hoffen“, fasst ein zufriedener Gunther Niedermair den Abend treffend zusammen.
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